Mit fast 2000 „Freunden“ bei Facebook bin ich recht breit vernetzt, mein Instagram-Account ist von anderen Christen gut frequentiert. Ich liebe es, in dieser Form Aspekte meines Lebens mit vielen Menschen zu teilen, die ich irgendwo mal getroffen habe oder mit denen ich durchaus auch tiefere Beziehungen habe. Es ist eine Art der „Gemeinschaft“, die ich pflege. Ja, auf die „angesagten“ Prediger und ihre YouTube-Videos werde ich regelmäßig aufmerksam gemacht, Lobpreis spielt bei mir via Apple-Music oder Spotify auf allerneuestem Level.
Ich könnte mir die wesentlichen Elemente meines christlichen Lebens sehr individuell zusammenbauen, wie ich es möchte. Ganz auf meine Bedürfnisse zugeschnitten. „Ich, meiner, mich und mir – Herr Jesus, segne bitte diese vier!“ Gemeinde 2.0 via Instagram und YouTube? Taufen und Segnungen werden mir auch schon via Facebook angeboten, ein Pastor für Amtshandlungen lässt sich per Mausklick mieten, per Paypal kann ich spenden.
Ein Pastor aus den USA berichtet mir, dass ein nicht geringer Teil seiner „Schäfchen“ eigentlich nur noch eine Online-Gemeinde ist. Er zählt sie aus seinem inneren Selbstverständnis voll zu seiner Gemeinde, auch wenn er sie selten bis nie persönlich sieht. Dieses Modell wird sicher auch bei uns Schule machen.
Wozu also noch in eine Lokalgemeinde gehen? Ich erspare mir, wenn ich nicht gehe, manchmal auch Verletzungen und Enttäuschungen, die mir in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zwangsläufig begegnen. Also: Lokalgemeinde, adé?
Fan von Lokalgemeinde
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin ein Fan von Lokalgemeinde. Ja, ich liebe die Segnungen der Fortschritte unserer Medien – und nutze sie intensiv. Aber mein Herz schlägt für die Lokalgemeinde, wo ich Menschen begegnen kann, Gemeinschaft mit ihnen haben kann, sie wahrnehmen kann, das Leben mit ihnen teilen kann – und mit ihnen gemeinsam dienen kann.
Aber ich nehme auch wahr, dass die Schar derer, die einmal in der Gemeinde waren, jetzt aber ihr Christsein individuell verstehen, offensichtlich zugenommen hat. Ihr Gottesdienst besteht schwerpunktmäßig aus den oben beschriebenen Elementen – ob regelmäßig oder eher unregelmäßig ist eine andere Sache. Die Ursachen für dieses Verhalten liegen manchmal in unaufgearbeiteten Erlebnissen oder sind Bequemlichkeit und manchmal auch schlicht Erschöpfung vom Alltagsstress. Unser Leben ist anstrengender geworden! Natürlich rede ich hier nicht von den Menschen, die nicht mehr können oder anders verhindert sind.
Sinn- und Gemeinschaftssuche
Ich schreibe diesen Artikel in der Bahn, während unweit von mir eine größere Gruppe Männer sitzt, die laut palavernd unterwegs zum Oktoberfest nach München ist. Ihr recht oberflächliches Gespräch bricht aber immer wieder in Begeisterung aus, wenn es um ihr Ziel geht: München! Nun kenne ich diese Festivität aus eigener Anschauung und weiß, dass der „Mehrwert“ durchaus begrenzt ist, wenn es beispielsweise darum geht, sich auf diesem Fest zu unterhalten. Während der Fahrt, so bekomme ich am Rande mit, springt ein weiterer geplanter Mitreisender ab – und (man staune) es wird telefonisch spontan jemand gewonnen, der zwei Stunden später an einem Bahnhof als Ersatzreisender mit an Bord genommen wird. Krass!
Sinn setzt Energien frei
Aber das „Ziel“, der „Sinn“ ihres Unterfangens und das „gemeinsam“ hat diese Männer, allesamt wohl aus einer Firma, zusammengebracht. Diese Reise wird mit einem nicht unerheblichen Aufwand durchgeführt, das setzt enorme Energien frei. Der Wunsch, mit einem Ziel und auch nicht allein unterwegs zu sein, ist für mich in der Gesellschaft überall spürbar. Das subtile Verlangen, mit dem, was man tut, eine einzigartige Bedeutung zu haben, etwas zu bewegen und zu verändern, ist irgendwie allgegenwärtig.
Es gehört ebenso zu den elementarsten Bedürfnissen eines Menschen, Gemeinschaft zu haben und geliebt zu sein, wie ein klares, definiertes Ziel zu haben. Die Frage nach dem „warum?“ muss geklärt sein. Warum tue ich genau das, was ich (jetzt) tue?
Sinnfrage ehrlich stellen dürfen
Früher reichte es oft schon aus, diese Frage mit einem „das haben wir immer schon so gemacht“ abzutun. In Zeiten von hunderten von Alternativen, die sich mir anbieten, reicht diese Argumentation offensichtlich nicht mehr aus. Konsequenterweise werden lästige „Pflichten“, die sich aus einer Aktivität ergeben, möglichst vermieden. Gemeinden merken das beispielsweise an der sinkenden Bereitschaft sich am ehrenamtlichen Reinigungsdienst zu beteiligen. Ja, jeder will sich wohl fühlen, auch Gästen ein nettes Ambiente geben, aber wenn es um die Frage geht, sich selbst an etwas (Unangenehmem) zu beteiligen, was nicht maximale Bedeutung hat, sinkt die Bereitschaft zunehmend. Man ist sogar oft eher bereit dafür zu zahlen, dass sich jemand anders engagiert.
Überfluss von Möglichkeiten
Unser Problem ist, dass wir viele, „zu viele“ Möglichkeiten haben. Nie hatten wir mehr Angebote von Individualisierung und Selbstverwirklichung als heute. Während noch vor wenigen Jahrzehnten unser Aktionsradius sehr begrenzt war, hat heute fast jeder aus unserem Kulturkreis die Möglichkeit, sich rund um den Globus zu bewegen und alles auszukosten, was das Leben bietet – solange die Finanzen da sind.
Das ist zunächst auch gar nicht verwerflich, setzt aber bei tieferem Hinsehen doch unter einen gewissen Druck, denn man will keineswegs etwas verpassen. Förderlich dafür ist auch ein Vergleichen, wenn man auf den sozialen Medien die neuesten Bilder der Freunde am Strand in der Karibik sieht – und man selbst gerade in der Kirche das Klo putzen muss….
Ja, ich muss die Sinnfrage ehrlich stellen dürfen, es muss erlaubt sein, das eigene Handeln hinterfragen zu dürfen. Aber das Boot droht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Die Vision vor Augen
Eines unserer Kinder hat kürzlich den ersten Nachwuchs bekommen. Schon Wochen vor der Ankunft unseres vierten Enkels war in ihrer Wohnung alles bestens und liebevoll vorbereitet. Als Ehepaar hatten eine „Vision“, einen Auftrag, eine Aufgabe mit großer Vorfreude vor Augen. In unseren Telefonaten und Chats mit ihnen, in ihren Media-Posts drehte sich fast alles um das eine Thema: „Wir werden Eltern.“ Ihr Leben hatte über Nacht eine neue Ausrichtung bekommen. Ein wesentlicher Auftrag bestimmt nun ihren Alltag: Wir versorgen den Kleinen. Trotz mancher schlaflosen Nacht überwiegt die Begeisterung.
Auftragsorientierte Gemeinde
Gemeinden, deren Gottesdienste einen Eventcharakter mit nahezu perfektem Ambiente haben, boomen. Angefangen vom freundlichen Welcome-Team bis hin zu einem durchgetakteten Gottesdienst, der auf die Minute pünktlich endet („ich habe ja danach noch etwas vor“), macht alles Sinn. Das spricht den Consumer an, aber nicht nur das. Da man in einer „sinnmachenden“ Sache mitarbeitet, sind nicht wenige zu einem hohen Einsatz bereit, teilweise mehr als in Gemeinden, die nur „so vor sich hinplätschern“. Du bist Teil einer Vision, eines Auftrages. Das setzt enorme Energie frei und stimuliert zu großartigen Leistungen. Leiter, denen es gelingt, Menschen diesen Sinn zu vermitteln, freuen sich über regen Zuspruch. Und das ist gut so.
Gleichzeitig geraten Gemeinden, die das nicht bieten können, in eine Depression, weil ihnen die Leute wegbleiben. Aber sie könnten vom Prinzip lernen. Je klarer der Auftrag formuliert ist, desto mehr Motivation wird freigesetzt. Menschen sind bereit, auf Schlaf und andere Annehmlichkeiten zu verzichten, wenn sie sehen: Mein Engagement macht einen Unterschied. Das, kombiniert mit einer starken Offenheit für die Wirksamkeit des Heiligen Geistes und ein zentriertes Gebetsleben, kann auch die schlaffste Gemeinde ab Trab bringen.
Das Warndreieck nicht übersehen…
Gemeinden müssen sinnstiftend unterwegs sein. Und das muss für den Menschen greifbar, umsetzbar und konkret sein. Man gibt sich heute nicht mit weniger zufrieden. Immer weniger wichtig sind theologische Fragen und erkannte Wahrheiten, sie geraten aus dem Blick. Und darin liegt eine Gefahr: Man fängt an sich auf einer anderen Ebene zu bewegen, ethische Fragen und andere Maßstäbe werden beliebig gar bedeutungslos, was wiederum die Individualisierung fördert. An dieser Stelle möchte ich ein „Warndreieck“ wie auf der Autobahn aufstellen: Achtung, Unfallgefahr vor dir!
Beziehungsorientierte Gemeinde
Als zweite Komponente ist die Beziehungsebene zu beachten. Wer in der Gemeinde nicht die nötigen Gemeinschaftsaspekte findet, bleibt frustriert und neigt nicht selten dazu, sich umzuorientieren. Hier fühlen sich diejenigen leicht benachteiligt, die nicht automatisch und von sich aus im Mittelpunkt des Geschehens stehen.
Kaffee ist in fast jeder Kultur hier ein probates Hilfsmittel, um Beziehungen zu stärken. Unsere Gesellschaft ist ein Spiegelbild davon. Wie viele Bonus-Karten für Coffee-Shops habe ich in meiner Geldbörse? Ich müsste nachzählen. Überall in unseren Städten schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Hier trifft man sich, um auszutauschen und Beziehungen zu bauen.
Viele Gemeinden haben diesen Trend erkannt. Ich liebe es, wenn auch noch zwei Stunden nach dem Gottesdienst Menschen beisammensitzen, um zu reden und sich an einer Kaffeetasse festzuhalten, weil es ihnen sonst vielleicht nicht leichtfällt, Beziehungen zu bauen. Wie gut, wenn dieser Weg konsequent beschritten wird. Zu bedenken ist aber, das „Filterkaffee“ mehr und mehr „out“ ist, es müssen unbedingt Kaffee-Spezialitäten sein. Auch das ist ein gesellschaftlicher Trend.
Es geht aber nicht nur um den Kaffee, es geht um die Gemeinschaft, die Halt gibt, die auch dann durchträgt, wenn es persönlich schwer wird. Dazu muss man in guten Zeiten tragfähige und „anfassbare“ Beziehungen bauen, andere spüren, selbst Nähe erleben und auch vermitteln.
Andere Gemeinden und Kulturen bieten jeden Sonntag Essen an. Meine indonesischen Freunde, bei denen ich jahrelang regelmäßig gepredigt habe, durfte ich nicht verlassen, ohne ihr scharfes(!) Essen genossen zu haben. Tiefer ins Gespräch zu kommen war nicht wichtig, manchmal auch nicht erwünscht, aber zusammensitzen und essen.
Allerdings muss man diese (Kaffee-) Gemeinschaft auch wollen. Manche gehen direkt nach dem Gottesdienst nach Hause und verpassen einen wesentlichen Teil des gemeinsamen Lebens. Obwohl sie sich eigentlich danach sehnen, entziehen sie sich doch. Das muss man respektieren, allenfalls liebevoll dafür werben.
Menschen zu helfen, gemeinschaftsfähig zu sein und entsprechende Angebote zu schaffen, gehört zu einer ganz wichtigen Aufgabe der Gemeinde des 21. Jahrhunderts.
Gebet in Kleingruppen
Eine wichtige Form der Gemeinschaft ist für mich das Gebet. Hier geht es weniger um das öffentliche, als vielmehr um das persönliche Gebet. Wenn ich als Pastor auffordere, im Gottesdienst in kleinen Gruppen zu beten, hat das auch mit der Frage der Gemeinschaft zu tun. Ich erlebe immer wieder in der älteren Generation, dass es ihnen leichtfällt, in der Öffentlichkeit laut zu beten, nicht aber in einer kleinen Gruppe. Das wird als zu persönlich und zu nah erlebt. Gerade das finde ich erstaunlich. Bei der jungen Generation ist das oft genau umgekehrt. Gemeinschaft setzt die Bereitschaft voraus, sich zu öffnen, auch im Gebet.
Gebetspartnerschaften zu zweit oder zu dritt können hier helfen. Über die Jahre habe ich sehr positive Erfahrungen damit gemacht, in kleinster Gemeinschaft regelmäßig miteinander zu beten. Ich halte diese Form für eine der effektivsten Gebetsformen, wenn die Beziehung denn tragfähig genug dafür ist.
Hauskreise / Kleingruppen
Mit dem Siegeszug der Individualisierung leiden auch Kleingruppen. Namenskosmetik scheint nur kurzfristig hilfreich sein, den Mangel an Teilnahme in Kleingruppen zu überwinden. Manchmal hilft nur Auflösung oder Neustart einer Gruppe wieder „auf Kurs“ zu kommen. Ein probates Mittel erscheint mir auch die zeitliche Begrenzung von solchen Gruppen, so dass von vorneherein klar ist, dass man eine Verpflichtung nicht auf „ewig“ eingeht.
Mitarbeit
Eine der besten Kombinationen der Sinnstiftung und des gemeinschaftsfördernden Miteinanders ist die Mitarbeit in einem Team. Hier werden in der Regel schnell Beziehungen gewonnen, man dreht sich nicht nur um sich selbst, sondern hat eine Aufgabe. Wenn diese dann auch noch einen Riesenspaß macht und man sich aufeinander freut, ist die Kombination gelungen. Allerdings muss hier darauf geachtet werden, dass die Balance nicht verloren wird. Einseitige Betonungen lassen Menschen ausbrennen und frustriert auf der Strecke bleiben.
Und es darf nicht nur „um uns selbst“ gehen, sondern der Blick muss von der Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde auf den Auftrag nach außen gerichtet werden. Gemeinde ist keineswegs nur Schaftstall, sie ist Fischerboot, um in biblischen Bildern zu sprechen.
Gemeinde des 21. Jahrhunderts kann sich dieser Herausforderung stellen, sinnstiftend und gemeinschaftsfördernd unterwegs zu sein, wenn man die Vision dafür hat: Es kostet einen Preis, aber es lohnt sich.
Frank Uphoff