Tiefergelegt…

Die Baustelle am Mittleren Ring hat es in sich. Bis 2016 sind wir damit noch gesegnet, direkt vor unserer Haustür. Über 400 Millionen Steuer-Euronen kostet dieses gigantische Bauwerk. Mehrere Kilometer ist es lang.

Wir kommen aus dem Urlaub zurück. Nanu, wo ist die Straße jetzt? Ende Juli hatte es sich schon angedeutet, dass der nächste Schritt die direkte Verlegung der Heckenstaller Straße bis 2 Meter an unseren heimatlichen Weg heran wäre. Und so ist es dann auch. „Da hat man ja fast Angst längs zu gehen“, konstatiert unsere Nachbarin. Sie hat nicht Unrecht. Ein kleines nettes Holzzäunchen, eher kosmetischer Natur, trennt die Spaziergänger von ungefähr 40.000  Autos täglich. Ungefähr. Eines würde spielend reichen, um den Zaun zu durchbrechen.

Ein paar Tage später dann der nächste Schritt. Diesmal wird die gegenüberliegende Fahrspur verlegt. Wo ist sie geblieben? Aaah, tiefergelegt! Auf einmal sieht man die PKWs der gegenüberliegenden Spur von unserem Weg nicht mehr, nur die hoch herausragenden LKW-Dächer.

Ich staune. Die Tieferlegung bewirkt doch schon eine enorme Lärmreduzierung. Freuen wir uns darauf, wenn die Straße ganz „verbuddelt“ ist.  Aber das wird noch dauern.

Gegenüber rückt der Schweizerische Teerfresser an. Wie dieses Maschinchen die bisherige Straße in Windeseile in Brösel zerlegt, grenzt schon an Wundersames. Das „Wikingerschiff“ fährt des Abends schon wieder mit Polizeibegleitung an den neuen Arbeitsplatz. So nennen wir familienintern die riesigen Pfahlbohrgeräte, die dino-haft die Landschaft um uns herum zieren. Die Straße ist dazu gesperrt.

Ich glaube, ich muss mich mal wieder zu einer Fototour entlang der Baustelle aufmachen und „neugierig“ sein.

Stehplatz für die Probefahrt

Seitdem wir in Jerusalem sind, fährt sie mit Plastiktüten – zum Schutz für die noch unbenutzten Sitzkissen. Leer. Gemächlich. Laut klingelnd, aber ohne Fahrgäste. Testbetrieb, so munkelt man. Techniker aus Deutschland würden noch benötigt, um die nötigen Feinheiten einzustellen.

Dreisprachig sind die Schilder vorne drauf: Hebräisch, Arabisch und Englisch – elektronisch im Wechsel. Silberfarben ist sie. 14 km lang sind ihre Gleise. Seit mehr als 8 Jahren wurde sie gebaut, viel länger wurde sie geplant. Sie ist Teil eines umfassenden Nahverkehrskonzeptes für Jerusalem. Die „Geisterzüge“ muten etwas seltsam an.

Per eMail bekommen wir aus Deutschland die Anfrage, ob wir denn schon mal mit der neuen Straßenbahn gefahren sind. Sind wir noch nicht!

Dann ist es endlich soweit. Unfeierliche Eröffnung. Keine Zeremonie, kein Nichts. Wir haben jedenfalls nur über einen „Informanten“ davon Kenntnis, dass es los gehen soll. „Heute um 5:30 Uhr fuhr die erste Bahn mit Fahrgästen“, heißt es lapidar. Die ersten Wochen sind die Fahrten kostenlos, damit sich alle an die neue Bahn gewöhnen können.

Wir dürfen uns diese Premiere natürlich nicht entgehen lassen und müssen auch ‚mal mit der neuen Straßenbahn fahren.  Die Gelegenheit ist günstig. Ein Freund setzt uns am Mount Scopus an einer Haltestelle ab. Wir haben die Wahl: Unsere bekannte Buslinie 19 oder die neue Tram. Die Entscheidung ist einfach.

Während wir am Bahnsteig warten, kommt ein Polizeibus quer über die Kreuzung dahergefahren. Die Sirenen heulen laut auf, Bremsen quietschen, Bewaffnete springen heraus, untersuchen den Bahnsteig, die Papierkörbe werden abgesucht. Wem gehört diese herrenlose Tasche?

Es gab eine Bombendrohung, bekommen wir später mit. Die Anschläge in Südisrael machen sich auch hier indirekt bemerkbar. Nervosität ist im Lande.

Sollen wir wirklich mit der Bahn fahren? Wir diskutieren noch einmal. Es bleibt aber fast keine andere Entscheidung, wenn wir nicht weit laufen wollen. Also: wir fahren Tram….

Wir hätten uns das eventuell doch besser überlegen sollen…

In zehn Minuten kommt eine Bahn, sagt die Anzeige. Mit der Wirklichkeit hat das nicht so viel zu tun. Aber immerhin, die Bahn kommt.

Nicht nur wir Reisegermanen, sondern auch viele andere Jerusalemer wollen (verständlicherweise) die Straßenbahn kennenlernen – und kostenlos fahren. Am zweiten Betriebstag ist sie dementsprechend voll. Gemütlich tuckert sie von Haltestelle zu Haltestelle. Überall ausreichend (!) Zeit zum Ein- und Aussteigen. Dann Warten. „Bitte nicht auf den Gleisen stehen bleiben. Wir sind hier nicht in Europa.“ Ein Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe ermahnt mich. Das Bild im Zug ist bunt: Familie, Kinder, die einen Riesenspaß an der neuen Einrichtung haben, Ultraorthodoxe, Araber,…. – Jerusalem live.

An jeder Ampelkreuzung und Haltestelle wird ausreichend Pause eingelegt. Es scheint, als müsse man erst überlegen, ob überhaupt und wann man weiterfahren dürfe. Die Ampelphasen sind in Jerusalem an jeder Ampel  sowieso ungewöhnlich lang.

Zwei Haltstellen später steigen vier ultraorthodoxe Mountainbiker ein. Jeder mit Fahrrad, versteht sich. Geschickt verbauen sie mit ihren Fahrrädern die Eingangstür, stehen quer, bauen immer wieder um, heben die Fahrräder hin und her. Vier Fahrräder in einem Straßenbahneingang sind in der Tat auch „gut“ bemessen. Natürlich kann das nicht gut gehen.

Die Mutter will mit ihrem Kinderwagen aussteigen. Ungeschickt wird der Wagen über die Mountainbikes gehoben. Die Pedale des einen verhaken sich in den Speichen des anderen. Die Bahn fährt an, die Biker schwanken, nur mühsam halten sie sich aneinander fest. Wir haben sowieso nur einen Stehplatz bekommen.

Endlich. Jaffa-Street. Hier kriegen wir, wenn wir die Ben Yehuda hochgehen, unseren Bus. Beim Aussteigen erkläre ich den Bikern, dass ihre Fahrt mit Drahteseln wohl nicht die beste aller möglichen Ideen gewesen sei. Und in München ist das sowieso nicht erlaubt. Ein verständnisloser Blick begleitet mich.

Jerusalem hat seine Straßenbahn. Herzlichen Glückwunsch! Und: Viel Spaß beim weiteren „Üben“. Mal sehen, wie sich das beim nächsten Besuch in Jerusalem anfühlen wird.

Bestimmt besser.