Mittwoch, 4:00 Uhr. Erbarmungslos klingelt der Wecker. Gefühlt ist die Nacht noch lange nicht zu Ende. Glücklicherweise ist die beste Ehefrau von allen bereit, den morgendlichen Chauffeur zum Flughafen zu stellen.
5:15 Uhr – 50 Cent kostet sie, die verschließbare Plastiktüte. Erbarmungslos landet mein Shampoo in der Mülltonne. Diesmal reise ich nur mit Handgepäck und habe nicht an die Kulturtasche gedacht. Vaseline zählt bei der Flugsicherheit auch zu den Flüssigkeiten – und was nicht in das Tütchen passt, muss in die offene Tonne…
5:48 Uhr – Was machst denn du so früh hier? Jutta, ehemals aus Augsburg, begrüßt mich stürmisch, während ich mich zum Gate begeben will. Wir tauschen kurz ein paar Gedanken aus und sind erfreut, uns hier unerwartet wieder zu treffen.
6:32 Uhr – Der Morgenkaffee im Flieger mit den „roten Herzen“ tut richtig gut. Auch ich gehöre zu denjenigen, die die Statistik bereichern, dass über den Wolken mehr Tomatensaft getrunken wird, als auf dem Boden. Irgendwie komisch, aber immer komme ich auf die Idee, den zu bestellen…
7:38 Uhr – „Sie können das Ticket auch bei mir kaufen“. Die freundliche Mitarbeiterin der Berliner Verkehrsbetriebe hilft mir, die offene Tür des namensvoluminösen Jet-Express-Bus TLX mit dem richtigen Ticket zu besteigen. Genau 29 Minuten später stehe ich vor dem Brandenburger Tor. Schnell noch ein „Selfi“ mit dem Mobiltelefon gemacht. Dann muss ich unbedingt DURCH das Tor gehen. Es ist offen. Wirklich.
8:14 Uhr – Pariser Platz 6a, direkt neben dem Brandenburger Tor. Marc Brenner, Präses der Gemeinde Gottes, kommt mir im dritten Stock entgegen. Dass die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) hier zu einem eher symbolischen Beitrag ein Büro, direkt gegenüber dem Reichstag, haben kann, um die freikirchlichen Interessen bei der Bundesregierung vertreten zu können, ist ein echtes Wunder, ein offenes Tor. Aus dem Fenster kann man das Brandenburger Tor fast berühren, gleich rechts glänzt das Reichstagsgebäude in der Morgensonne.
8:32 Uhr – VEF-Präsident Ansgar Hörsting beginnt unser Vorstandstreffen mit einer Andacht über Psalm 139. Von allen Seiten umgibst du mich, Herr. Welch ein gutes Wort für diesen Tag. Die Sitzung ist vollgepackt mit Themen und Entscheidungen, die die Belange der VEF in Deutschland betreffen. Es ist ein herzliches und gutes Miteinander, das sich in den knapp vier Monaten seit unserer Wahl entwickelt hat.
12:27 Uhr – Schnell noch ein Vorstandsfoto vor der imposanten Kulisse des geschichtsträchtigen Tors gemacht, dann müssen wir uns auch schon auf den Weg machen – natürlich durch das Tor hindurch.
12:38 Uhr – „Hier müssen wir abbiegen“. Gemeinsam gehen wir durch den Berliner Tiergarten, um zu unserem Tagungshotel zu kommen. Mission.Respekt. heißt der Kongress, bei dem ich den BFP gemeinsam mit zwei anderen Pastoren aus unserem Bund vertrete. Herzliche Begrüßung beim Empfang, gleich lerne ich auch ein paar neue Leute kennen. Das ist immer ein wichtiger Nebeneffekt auf Tagungen.
14:02 Uhr – Präses Michael Diener, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, heißt den Kongress willkommen. Die Zusammensetzung der Teilnehmer ist höchst interessant. Sie kommen aus den unterschiedlichsten kirchlichen Hintergründen. Wie können wir in einer sich verändernden, mulitreligiösen Welt unser christliches Zeugnis heute glaubwürdig vermitteln? Die Fragestellung ist zentral. Ist das Tor noch offen? Ein Referent kommt aus Rotterdam. Er arbeitet in einer Gemeinde, in deren unmittelbarem Umfeld etwa 85% der Bewohner „nicht-niederländisch geboren“ sind. Das Umfeld sei völlig multireligiös, führt er aus. Er plädiert dafür, ein klares christliches Profil zu zeigen, aber auch offen für das Gespräch zu sein.
15:38 Uhr – In unserer Kleingruppe sitzt ein baptistischer Professor. Gemeinsam tauschen wir uns über das Gehörte aus. Wir sind uns einig, dass wir als Christen furchtlos unser Zeugnis weitergeben sollen. Aber auch andere Töne sind hörbar, die Mission weniger und Respekt mehr betonen. Eine von vier „Lauschern“ kommt in unsere Gruppe. Ihre Aufgabe ist es, später aus dem, was sie in den Kleingruppen gehört haben, im Plenum zu berichten.
19:05 Uhr – Ich komme etwas zu spät zum abendlichen Gottesdienst. Neben Marianne ist in der vorletzten Reihe noch ein Platz frei. Sie ist eine couragierte evangelische Pfarrerin, am Nachmittag hatten wir uns schon in einer weiteren Gesprächsgruppe getroffen. Die Begegnung mit den unterschiedlichsten Menschen ist für mich sehr bereichernd. Immer wieder wird in den Pausen über das Gehörte diskutiert, zustimmend – oder auch nicht. In Reihe eins der Kirche hat auch Bundestagspräsident Lammert Platz genommen, in der zweiten Reihe rechts sitzt Bundesgesundheitsminister Gröhe. Die Personenschützer mit dem Knopf im Ohr, die die beiden Politiker auf Schritt und Tritt begleiten, halten sich dezent im Hintergrund, beobachten die Szenerie aber genau.
20:42 Uhr – Mittlerweile habe ich in der kurzen Pause einen Platz links in Reihe zwei gefunden. Ich will ein paar Fotos schießen. Die sich anschließende Podiumsdiskussion plätschert zunächst etwas dahin, weil sich die Diskutanten weitgehend einig sind. Bundestagspräsident Lammert setzt sich vehement dafür ein, dass die Religionsfreiheit in unserem Land „mit Klauen und Zähnen verteidigt“ werden muss. „Das ist ein hohes Gut, das wir in unserer Demokratie haben.“ Applaus brandet auf. Mich beeindruckt wie er den Anwesenden Mut macht, christliche Positionen klar zu formulieren. Ja, das Tor ist offen, auch für die christliche Botschaft.
22:10 Uhr – Die Dame vom Catering-Service ist freundlich aber bestimmt. „Herr Minister, Sie müssen etwas essen. Und Sie auch, bitte.“ Wir sollen das Gehörte durch gezielte persönliche Kontakte vertiefen. Minister Gröhe nickt mir aus der gegenüberliegenden Reihe freundlich zu, als ob wir uns lange kennen würden. So nutze ich die Gelegenheit zu einem sehr persönlich gehaltenen Austausch mit ihm und kann auch über unsere Anliegen als Gemeindebewegung sprechen. Geistliches ist ihm nicht fremd. Als er noch CDU-Generalsekretär war, hatte der jetzige Bundesgesundheitsminister unserem Präses Justus zu seiner Wahl gratuliert.
23:15 Uhr – Obwohl ich schon mehr als 19 Stunden auf den Beinen bin, reizt mich die laue Berliner Luft noch zu einem abendlichen Spaziergang. Vorbei an der Philharmonie schlendere ich unter dem imposanten Dach des Sony Centers zum Potsdamer Platz. Hier stehen ein paar Elemente der ehemaligen Berliner Mauer, auf dem Boden ist der genaue Verlauf markiert. Weiter geht es, vorbei am monumentalen Denkmal für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus und an der amerikanischen Botschaft.
23:55 Uhr – Die amerikanische Botschaft direkt am Tor erinnert an die Worte, die Ronald Reagan am 12. Juni 1987 wenige Meter weiter ausgerufen hatte: „Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!“. „Die Mauer (…) wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben“, hatte Erich Honecker im Januar 1989 gesagt. Als knapp ein Jahr später die Mauerteile mit dem Kran weggehoben werden, sitze ich am Fernseher und habe Tränen in den Augen. Das Tor ist – offen!
00:05 Uhr – Das Brandenburger Tor ist hell beleuchtet. Und es ist – offen! Wieder gehe ich bewegt hindurch. Ein paar Leute, die offensichtlich aus China kommen, haben irgendeinen Grund hier zu feiern. Sicher nicht das, was wir 2014 feiern: 25 Jahre ist es her, da ist dieses Tor um diese Zeit noch geschlossen. Wenige Wochen später ist es offen. Ja, es war so ungefähr im August 1989, da hatten wir in der Nähe von Frankfurt Übernachtungsgäste, die auf einer Gebetskonferenz für Deutschland waren. „Wir haben im Gebet gestern die Regierung der DDR abgesetzt und gebetet, dass die Mauer fällt“, erzählten uns unsere damaligen Gäste beim Frühstück. So viel Glauben hatte ich damals nicht und bedächtig den Kopf geschüttelt. Und heute, 25 Jahre später: Es berührt mein Herz, hier konkret zu sehen, was in unserem Land geschehen ist. Dafür bin ich Gott dankbar. Auch an diesem Abend.
00:55 Uhr – Ob ich liege oder gehe – die Worte des Psalmschreibers, die Ansgar Hörsting am Morgen gelesen hatte, sind wieder da. Müde öffne ich die Tür zu meinem Zimmer und falle fast ins Bett. Klick! Es reicht, die Schlüsselkarte ans Schloss zu halten – und schon ist die Tür offen, für mich.
01:05 Uhr – Ich bin dankbar für alle Impulse, für alle Begegnungen, für alle Bewahrung, die dieser Tag mit sich gebracht hat. Und ich bin dankbar für alle offenen Türen und Tore in meinem Leben.
Dein Tor ist – offen! Und? Gehst du hindurch?